Druck von der Straße
Die mit einer Erhöhung der Ticketpreise im öffentlichen Nahverkehr begonnenen Proteste und Unruhen der Bürgerinnen und Bürger in Chile halten nun schon über ein Jahr an. Aufgrund der bestehenden Ungleichheiten in Chile fordern die Demonstrierenden unter anderem eine Reform der aktuellen oder das Einsetzen einer neuen Verfassung für das südamerikanische Land.
Sowohl die Regierungsparteien um Präsident Sebastián Piñera als auch die Oppositionsparteien kamen am 15. November 2019 den Menschen entgegen und setzten ein Verfassungsreferendum für den 26. April 2020 an. Aufgrund der Corona-Pandemie, von der Chile sehr stark betroffen ist, musste dieses allerdings nun auf Oktober verschoben werden.
Die aktuelle Verfassung
Die aktuelle Verfassung stammt aus dem Jahr 1980, als Chile von Diktator Augusto Pinochet regiert wurde (1973-1990). Es handelt sich dabei um eine „neoliberale Verfassung“, die laut der Linken vor allem Reformen in den Bereichen Gesundheit, Rente und Bildung einschränkt und die politischen Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler unterdrückt. Außerdem sollten durch die Verfassung jegliche Eingriffe des Staates in Unternehmen minimiert werden. Die bisherige Verfassung machte Chile zwar zu einem der reichsten Länder Südamerikas, aber gleichzeitig auch zu einem Land enormer Ungleichheiten.
14 Millionen stimmen über neue Verfassung ab
Am vergangenen Sonntag kam es nun zu einer Premiere in der Geschichte Chiles: Insgesamt durften erstmals etwas mehr als 14 Millionen Chileninnen und Chilenen im In- und Ausland und Ausländer, die seit mindestens fünf Jahren in Chile wohnen, über eine Verfassungsänderung entscheiden. Aufgrund der weiter andauernden Corona-Pandemie hat die chilenische Wahlbehörde entsprechende Maßnahmen zum Schutz der Bürgerinnen und Bürgern getroffen. Die Wahl wurde jedoch dadurch erschwert, dass es in Chile keine Möglichkeiten gibt, per Brief oder digital zu wählen. Deshalb ist davon auszugehen, dass vom Corona-Virus infizierte Personen oder andere Erkrankte ihr Wahlrecht nicht ausüben konnten.
Über was wurde abgestimmt?
Mit der ersten Frage wurde entschieden, ob die aktuelle Verfassung durch eine neue Verfassung ersetzt wird. Dieser stimmten 78 % der Wählerinnen und Wähler zu. Mit der zweiten Stimme konnten die Wahlberechtigten entscheiden, wer diese ausarbeiten wird. Zur Auswahl stehen (A) ein gemischter Verfassungskonvent aus von der Bevölkerung gewählten Mitgliedern und amtierenden Parlamentarierinnen aus dem Senat und dem Abgeordnetenhaus und (B) einem Verfassungskonvent mit ausschließlich vom Volk gewählten Mitgliedern. Mit insgesamt 79 % der Stimmen ist auch hier deutlich für Vorschlag B abgestimmt worden. Die Mitglieder des ausschließlich von den Bürgerinnen und Bürger gewählten Gremiums sollen in einer weiteren Volksabstimmung im April 2021 ausgewählt werden.
Vorbildfunktion für andere Nationen
Ralf-Uwe Beck, Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie, findet lobende Worte für das geplante Verfassungsvorhaben: “Wenn alles wirklich so abläuft, wie vom Verfassungskonvent geplant, dann könnte Chiles neue Verfassungsfindung zum Vorbild vieler Länder werden.”
In den vergangenen Wochen kam es in den Straßen Santiagos wieder vermehrt zu friedlichen Demonstrationen und vereinzelt auch zu Gewalt und Vandalismus. Auch werden immer wieder Menschen, die sich für eine neue Verfassung aussprechen, von der Polizei körperlich angegriffen oder festgenommen. Das Referendum scheint wieder friedlich verlaufen zu sein. Die Befürworter einer neuen Verfassung haben sich am Abend der Abstimmung erneut auf den Straßen Santiagos versammelt, um zu feiern. Präsident Piñera sprach nach Schließung der Wahllokale, von einem Sieg für die Demokratie und Einigkeit. Weiterhin bleibt zu hoffen, dass das Referendum wirklich dazu beiträgt, dass sich das Land stabilisiert und so gleichzeitig als Vorbild für andere Nationen fungieren kann.