Mehr Demokratie will Reform des Wahlrechts: „Keine Stimme soll verloren gehen“

Karl-Martin Hentschel, Ex-Fraktionschef der Grünen und Vorstand im Verein „Mehr Demokratie“ fordert eine Reform des Wahlrechts in Schleswig-Holstein.

KIEL| Herr Hentschel, am 8. Mai wird in Schleswig-Holstein gewählt. Ist diese Wahl demokratisch genug?

Ja, aber es ginge deutlich besser. Wir vom Verein „Mehr Demokratie“ schlagen das System der Mehrpersonenwahlkreise vor, wie es in über 70 Demokratien schon eingeführt wurde – etwa in Dänemark, Finnland, Irland, Island, Norwegen, Österreich, Schweden und der Schweiz. Damit könnte Schleswig-Holstein bundesweit Vorbild werden.

Keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr

Und wie würde das funktionieren?

Die Wähler sollen mehr Einfluss darauf haben, welche Personen sie im Parlament vertreten. Wir schlagen deshalb eine Personenwahl mit einem Verhältnisausgleich vor. Die Wähler haben die Wahl zwischen mehreren Kandidaten einer Partei. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Zahl der Abgeordneten auf 69 festgelegt ist. Es gibt keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr.

Wahlkreise werden neu zugeschnitten

Und das geht wie?

Grundidee ist die Wahl von 59 Abgeordneten in Mehrpersonenwahlkreisen. Wahlkreise könnten die heutigen Kreise und kreisfreien Städte sein. Nur Neumünster und der Kreis Plön sowie Flensburg und der Kreis Schleswig-Flensburg werden zusammengelegt. In jedem Wahlkreis würden dann – je nach Bevölkerungsanteil – zwischen drei und sechs Abgeordnete direkt gewählt.

Dann gibt es von jeder Partei auch mehrere Kandidaten im Wahlkreis?

Genau. Die Sitze im Wahlkreis werden proportional zur Zahl der Stimmen für ihre Kandidaten an die Parteien vergeben. Weitere zehn Abgeordnete werden über die Landeslisten der Parteien gewählt. So können die Parteien für sie wichtige Abgeordnete absichern.

 

Die Befreiung des SSW von der Sperrklausel soll erhalten bleiben.

Karl-Martin Hentschel, Mehr Demokratie

Und was ist mit den kleinen Parteien wie dem SSW, der von der Fünf-Prozent Sperrklausel befreit ist?

Die Sperrklausel bei unserem Vorschlag liegt bei drei Prozent. In den Landtag kommen nur Parteien, die mehr Stimmen bekommen oder mindestens drei Direktmandate gewinnen. Die Befreiung des SSW von der Sperrklausel soll aber erhalten bleiben.

Wie viele Stimmen kann jeder Wähler vergeben?

Anstatt bisher nur einer Zweit- oder Parteistimme können die Wähler drei Personenstimmen an Kandidaten einer oder mehrerer Parteien abgeben. Zusätzlich soll jeder mit einer Ersatzstimme eine andere Partei wählen können Diese kommt zum Tragen, wenn die von ihm abgegebenen Stimmen für Kandidaten einer kleinen Partei wegen der Sperrklausel verfallen. So geht keine Stimme verloren.

Ist das nicht sehr kompliziert?

Nein, nicht komplizierter als das jetzige Wahlrecht. Wir wollen, dass jeder Wahlberechtigte die Wahlunterlagen mit Stimmzettel und einer Broschüre mit Vorstellung der Parteien und Kandidaten direkt zugeschickt bekommt.

Gerade hat der Landtag darüber debattiert, ob das Wahlrecht für Ausländer erweitert wird...

...ja, das ist dringend nötig. Wir wollen, dass alle EU-Bürger an Landtagswahlen teilnehmen können – und Nicht-EU-Bürger wahlberechtigt sind, wenn sie sich mindestens fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland aufhalten.

Was wollen Sie noch?

Wir wollen Proteststimmen gezielt erfassen: Leere und durchgestrichene Stimmzettel werden gesondert gezählt und in der Statistik als Proteststimme ausgewiesen. So bekommen wir einen Überblick darüber, wie viele Menschen unzufrieden mit den Parteien sind.

Warum sind diese Änderungen nötig?

Modellrechnungen zeigen, dass es leicht passieren kann, dass nur aufgrund einer unglücklichen Stimmen Verteilung bis zu ein Drittel mehr Abgeordnete im Landtag sitzen, als in der Verfassung vorgesehen. Außerdem wollen wir die Personenwahl stärken. Auch Wähler mittlerer und kleinerer Parteien sollen im Landtag Abgeordnete aus ihrem Wahlkreis wiederfinden.

Mehr Details zu den Vorschlägen für Wahlrechtsreformen von Mehr Demokratie

Online-Diskussion am Donnerstag

Sind Bürgerräte auch für Schleswig-Holstein sinnvoll?

Die Demokratie gerät weiter unter Druck. Einerseits verlieren immer mehr Menschen das Vertrauen in die demokratischen Institutionen, andererseits fordert die Politik mehr Verständnis für die schwierigen Abwägungsprozesse in einer komplexer werdenden Welt. Bürgerräte, die per Losverfahren zusammengesetzt einen Querschnitt der Bevölkerung abbilden, könnten eine Möglichkeit sein, zu einer spezifischen Frage Empfehlungen für die Politik zu erarbeiten. Doch ihre Legitimation ist umstritten. Der Verein „Mehr Demokratie“ hat in der zurückliegenden Wahlperiode die beiden ersten bundesweiten Bürgerräte durchgeführt und diskutiert am Donnerstag, 7. April, 19.30 Uhr, mit den Landespolitikern Tobias von der Heide (CDU), Kai Dolgner (SPD), Jörg Hansen (FDP), Aminata Touré (Grüne) und Svend Wippich (SSW) über das Thema.

 

Die Veranstaltung findet online statt. Anmeldungen zur Teilnahme und den Zugangslink gibt es per E-Mail